In den letzten Kriegsjahren brach im Dritten Reich die Zeit der Wunder aus. Die NS-Propaganda schwärmte auf allen Kanälen von vermeintlichen “Wunderwaffen”. Noch im Januar 1945, kurz vor der Kapitulation, träumte Adolf Hitler in einer Radioansprache von deutschen Raketen, die den “Endsieg” bringen würden.
Dabei war die erstmalig mit Flüssigtreibstoff betriebene Rakete Aggregat 4, später bekannt als Vergeltungswaffe 2 oder V2, eine reine Propagandawaffe. Die V2 hatte je nach Ausführung und Entwicklungsstand eine Treffergenauigkeit von einem bis 17 Kilometern. Damit konnte die Waffe die englische Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken versetzen – aber schwerlich bis unmöglich militärische Anlagen zielgenau treffen.
Nazi-Technologie, von Raketen oder Nurflügler-Jets bis hin zu aberwitzigen “Reichsflugscheiben” auf dem Mond oder unter der Antarktis faszinieren bis heute. Dabei schraubten deutsche Ingenieure an einer weiteren Technologie, die mindestens genauso bedeutend ist wie Raketen und Jets. Im Schatten der Wunderwaffen entwickelten Ingenieure den ersten Prototypen eines Industrieroboters: Rudolf Nebel und Karl Saur erdachten den “Automatischen Arbeiter”.
Ein automatischer Arbeiter für die V2-Rakete
Der Totale Krieg machte den NS-Funktionären Druck. Erfolge musste her, egal ob militärisch oder in der heimischen Rüstungsproduktion. So erging es auch dem Direktor des Rüstungsunternehmens Mittelwerk GmbH auf dem Gelände des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora bei Nordhausen. Albin Sawatzki verfasste am 28. Juni 1944 ein bemerkenswertes Schreiben. Darin forderte er die “rascheste” Verwirklichung “automatischer Arbeitskräfte”.
Den Zuschlag erhielten die Ingenieure Nebel und Saur, wie Auftragsschreiben des Reichsluftfahrtministeriums beweisen. Zehntausende Reichsmark flossen nachweislich in das Projekt. Ab Juli 1944 sollen die beiden Techniker im KZ Mittelbau-Dora mit 100 Häftlingen an dem Roboter gearbeitet haben.
“Das behauptet zumindest Rudolf Nebel in seiner Autobiografie ‘Die Narren von Tegel'”, sagt der Technikhistoriker Frank Dittmann. Er hat im Archiv des Deutschen Museums in München den Nachlass von Rudolf Nebel untersucht und darin Konstruktionszeichnungen, Fotos und Schriftverkehr zum “Automatischen Arbeiter” gefunden.
Frank Dittmann
Frank Dittmann ist Technikhistoriker und Kurator am Deutschen Museum im München. Sein Fachbereich ist Robotik, Automation und Künstliche Intelligenz. Anlässlich der Jahrestagung der Gesellschaft für Technikgeschichte in der Gedenkstätte Mittelbau-Dora (20. bis 22. Mai 2022) hat Frank Dittmann den “Automatischen Arbeiter” vorgestellt.
Wie die Maschine funktionierte
Der Industrieroboter sollte für die Herstellung von Steuerungselementen der “V”-Waffen eingesetzt werden. Ein Konstruktionsplan legt nahe, wie der Automatische Arbeiter funktionieren sollte. Der Ablauf könnte so ausgesehen haben: Im Zentrum der Anlage befindet sich das Werksstück, in diesem Falle ein Zylinderkopf. Auf mehreren Schienen bewegten sich selbstständig Werkzeuge, um an den Zylinder heranzufahren. So sollte der Zylinderkopf automatisch zusammengebaut werden.
Der Unterschied zur Vorgängertechnologie ist, dass keine Menschen mehr in die Zwischenschritte eingreifen.
“Der Unterschied zur Vorgängertechnologie ist, dass keine Menschen mehr in die Zwischenschritte eingreifen. Arbeiter mussten den Zylinder nicht mehr von Maschine zu Maschine tragen, sondern mehrere Arbeitsschritte sollten an einer Anlage abgeschlossen werden”, so Dittmann.
Das Problem: Niemand weiß, ob der Automatische Arbeiter existierte. Im Nachlass liegen Fotos, Unterlagen und Pläne. Zeitzeugenberichte über die Maschine selbst gibt es nicht.
Einer der Erbauer der Maschine, Rudolf Nebel, war ein geltungsbedürftiger Zeitgenosse. Nebel gründete Anfang der 1930-er Jahre auf einem Raketenflugplatz in Berlin eine Gruppe, die sich mit der neuen Technik befasste. Zu der Gruppe von Ingenieuren gehörte auch Wernher von Braun, der später weltberühmt werden sollte. Im Gegensatz zu Braun verpasste Rudolf Nebel den schnellen Aufstieg zum Ingenieur-Star. Während des Röhm-Putsches wurde Rudolf Nebel verhaftet und vom Raketenprogramm ausgeschlossen.
Der gekränkte Raketenbauer
“Der jüngere Wernher von Braun zog an dem erfahrenen Ingenieur vorbei. Das muss Nebel gekränkt haben”, so Dittmann. Im August 1943 fielen britische Bomben auf das Raketentestgelände in Peenemünde. Die Raketenproduktion und alle Wissenschaftler wurde nach Nordhausen ins KZ Mittelbau-Dora umgesiedelt. Wernher von Braun und Rudolf Nebel arbeiteten ab 1944 plötzlich wieder an einem gemeinsamen Ort, einem Konzentrationslager.
“Ich vermute, dass es für Nebel eine Genugtuung gewesen sein muss, wieder zu Wernher von Braun aufzuschließen und in Nordhausen seine Maschine zu entwickeln”, so Historiker Dittmann.
Im April 1945 befreiten die Amerikaner das KZ Mittelbau-Dora. Führende deutsche Wissenschaftler gingen nach Bayern, wurden dort verhaftet und arbeiteten später für das amerikanische Raumfahrtprogramm. Für Rudolf Nebel interessierten sich die Amerikaner nicht. Er ging in die Prignitz nach Bad Wilsnack.
“Als einer der wenigen Raketeningenieure der ersten Stunde, der in Deutschland blieb, konnte er sich nach dem Krieg durch Vorträge als eigentlicher Vater der Raketentechnologie inszenieren”, so Dittmann.
Ob der “Automatische Arbeiter” jemals funktioniert hat oder nur Wunschdenken eines gekränkten Ingenieurs war, ist bis heute unklar. Solange die Maschine nicht zufällig im Keller eines amerikanischen Museums entdeckt wird, bleibt der braune Industrieroboter ein ideengeschichtliches Kuriosum des Zweiten Weltkriegs.
Autor: MDR Harz
Quelle: MDR Harz